Die erste Erkletterung der Adelsnadel
Rüstig geht’s auf der Landstraße dahin, den Adelsfelsen entgegen. Ringsum Frühling und lachender Sonnenschein, doch bemerke ich diese Herrlichkeit kaum. All mein Denken und Sinnen gilt der vielversprechenden Nadel, die ich noch nie gesehen habe und die doch wie eine hochrote Flammensäule in mir brennt. Heute soll sie bezwungen werden. In dem schmucken Rumbach ziehe ich meine Uhr auf. Was wird sein, wenn sie wieder aufgezogen werden muß?
Die Erwartung läßt den Fuß eiliger streben, der große Adelsberg bleibt mehr und mehr zurück. Und in gesteigertem Tempo um die Kurve des kleinen Adelsberges und das Ziel ist erreicht. Endlich stehe ich vor ihr, die mich schon wochenlang in Gedanken beschäftigt und sehe mit leibhaftigen Augen die unritterlichen Steilwände die mit ihren gipfelverschließenden Überhängen wie das steingewordene Todesgrauen herniederschauen. Nur an der Nordostseite klafft, gleich einem blutigen Säbelhieb ein 3 fingerbreiter Riß von einer wahrscheinlich erreichbaren Stelle bis zum Gipfelüberhang, der hier aus zwei hervorspringenden Backen besteht, die gar unfreundliche nach innen zusammenlaufen. Dort oben in jener unheimlichen Höhe wird bald die Entscheidung fallen.
Ich kann nicht gemütlich Frühstücken. Mit einem belegten Brote in der Hand schaue ich nochmals und abermals zu meinem Probleme auf und nieder. Ich habe keine Ruhe mehr, er treibt mich zu Werke.
Mein Bruder Wilhelm sichert, ich steige an einer ungünstig verwitterten Wand empor. Eine Traverse nach links noch und die erste größere Schwierigkeit beginnt. Abgeflachte Stufen versperren überhängend ein zum Aufenthalt geeignetes Band. Unter eiligen Hammerschlägen singt sich ein Sicherungshaken in den Fels. Nun ein entscheidendes Zupacken und eine Minute später ist das ca. 40 cm breite Band erreicht, das in einer Höhe von 15 Meter aus der Ostwand allmählich hervorspringt und knapp in der Nordwand wieder verläuft.
Ich such einen zur Sicherung geeigneten Stand, dann folgt mein Bruder nach. Wir gönnen uns ein kurzes Verschnaufen, gefährliche Arbeit steht bevor. Nochmals schaue ich mir aus nächster Entfernung den schwierigen Riß an, der beinahe lotrecht in die Höhe steigt und in einem glatten Wandstück unter den überhängenden Gipfelblöcken mündet.
Langsam beginne ich mit den Aufstiegsvorbereitungen. Ein alter Sicherungshaken, der bei einem früheren Erkletterungsversuch von Kletterern eingeschlagen wurde, wird auf seinen Verlaß geprüft und zur Vorsicht ein neuer eingetrieben. Nun ist alles in Ordnung. Ich mach bereits den ersten Klimmzug, treuer Brudershand sichert. Dezimeter um Dezimeter muß zäh erkämpft werden. Höhe und Gefahr merke ich nicht mehr vor harter Arbeit. Keuchend erreiche ich eine leider nur angedeutete Nische direkt unter dem weit überhängenden Gipfel. Mit den Zehen auf kleinen Wandleistchen stehend treibe ich nochmals eine Sicherung in den widerspenstigen Stein. Harte und mühsame Arbeit; gar nur geschickt läßt sich in solcher Belauerstellung schlagen.
Endlich ists soweit. Mit der rechten Hand taste ich den Überhang ab. Ein schwacher Halt ist gefunden; er muß genügen um den Körper hochzuziehen. Die Erregung brennt in mir wie Feuer. Jetzt ein „es muß!“ und ich packe die letzte, schwierige und gefährliche Stelle an. Krampfhaft verklemmt sich der linke Arm während die Rechte den Körper hochzieht bis der Rücken sich an den linken Vorsprung pressen kann. Das rechts hochgestemmte Bein hilft mit. „25 m frei in der Luft.“ „Nicht dran denken!“ Schwer geht der Atem. „Die Entscheidung!“ raunts in mir. Mit äußerster Kraftanstrengung würge ich mich hoch und sehe den Gipfel; der Körper hängt noch über der grausigen Tiefe. Fiebernd jagt das Blut durch die Adern. Da, wie wohl, wie leicht es wird; mein Fuß findet einen Halt, das Körpergewicht verteilt sich, noch eine kleine Anstrengung und ich stehe wohlbehalten auf einem breiten Gipfelband.
Zwei Sprünge bringen mich auf die höchste Gipfelplatte zum Steinmann. Scharf und wild dringt mein lebensbejahender Jauchzer in den Frieden des sonnenüberspannenen Tales. Doch noch ist keine Zeit zum Ruhen und Schauen. Mein Bruder der noch unten steht wird schon ungeduldig. Ich sichere um den Ast einer verkrüppelten Kiefer, die auf diesem mageren und harten Boden ihre Heimat aufschlug. Mit bewährter Gewandtheit erledigt mein Bruder in kurzer Zeit den schwierigen Weg.
Wir reichen uns die Hand, das Werk ist vollbracht. Neben dem Steinmann steht lose eine verrostetet Blechschachtel. Sie enthält eine Skizze mit Beschreibung. Theo und Fritz Mann aus Ludwigshafen erkämpften sich am 10. Mai 1914 durch Seilüberwurf den Gipfel. Erst unsere Unternehmung stellt also die erste Erkletterung dar.
Schwer liegt die fürchterliche Arbeit noch in allen Gliedern, doch die quälende Spannung der letzten Tage ist verflogen. Licht und heiter wird’s allmählich in unserm Inneren und frohe Lieder und heiteres Geplauder setzen ein. So verweilen wir fast 2 Stunden in unserem Gipfelglück, dann geht’s am Seil in die Tiefe.
Nicht wir!!!, die Sehnsucht wars, die uns nach oben trieb!
Im Mai 1921, Otto Matheis